Das Lieferkettengesetz und die Banalität der Hannah Arendt
Zum Lieferkettengesetz sagt der deutsche Entwicklungsminister: „Die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Kinderarbeit darf nicht zur Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstandes werden.“ Das stimmt so nicht ganz …
Hannah Arendt und die Banalität des Bösen
Es könnte ein schwieriger Artikel werden. Man könnte ihn anders angehen, vielleicht weniger provozierend. Hannah Arendt müsste man auch nicht heranziehen. Ich denke aber, dass der gewählte Weg seine Berechtigung hat und ich werde immer dort, wo ich es für angebracht halte, relativieren. Vor allem im Rückblick. Doch dazu später mehr.
Bevor man über das in Gang gekommene Lieferkettengesetz und Hannah Arendt in einem Zusammenhang spricht, kann man vielleicht vorsichtig nachfragen: Hannah Arendt ist allen ein Begriff? Nein? Nicht so ganz sicher?
Hannah Arendt war eine jüdische Politologin und Philosophin, die sich intensiv mit totalitären Strukturen auseinandergesetzt hat. Und das in einer sehr entlarvenden Art und Weise. Eine zentrale Kategorie entzündete sich bei ihr als Berichterstatterin zum Eichmann-Prozess in Israel: Sie erkannte die – von ihr so genannte – Banalität des Bösen. Sie stellte fest, dass einer der größten Verbrecher der Menschheit, der Millionen von Menschen in die Kammern und Öfen von Auschwitz ziemlich perfekt deportierte, bei sich keine Verantwortung sah. Er, Eichmann, war zuständig für die logistische Herausforderung, so viele Menschen wie möglich hocheffizient nach Auschwitz zu bringen. Das „Davor“ und das „Danach“ war nicht sein Zuständigkeits- und damit auch nicht sein Verantwortungsbereich. Er war, so könnte man es nennen, nur für „seinen“ Teil der Lieferkette zuständig. So sein Verständnis seiner Arbeit. Was vorher, während und danach passierte, war einer der größten menschlichen Abgründe, die es jemals auf unserer Erde gab. Aber wohl eben nicht für Eichmann in seiner banal gesehenen Zuständigkeit. Darum die Banalität des Bösen.
Das Lieferkettengesetz – die Verantwortung
Der frühe Industrialismus hat zum Teil unerträgliche Arbeitsbedingungen mit sich gebracht. Bei uns und anderswo. Über die Jahrzehnte hinweg war die Arbeiterschicht bei niedrigen Löhnen und hohem Risiko zu einem Leben in Armut verdammt. Erst die Versuche von Bismarck, eine Sozialgesetzgebung zu initiieren, konnten eine neue Richtung einleiten. Wenn auch zunächst mit wenig Erfolg. Nach dem zweiten Weltkrieg, sozusagen ab einer vollumfänglichen Nulllinie, hat sich aber in Deutschland eine unaufhörliche Aufwärtsbewegung entwickelt und immer weiter fortgesetzt. Und das für alle Schichten. Das klingt erstmal richtig gut. Erfolgsmodelle klingen immer gut.
Aber ganz so einfach ist eben nicht – und das wissen wir auch alle.
Die prekären Beschäftigungsverhältnisse – und das dürfte noch ein beschönigender Begriff dafür sein – haben sich nicht in Luft aufgelöst; sie sind „outgesourced“ worden. Sie befinden sich nicht mehr hier im Lande, sondern weit weg. Weit weit weg. Und damit kann man sie auch nicht mehr sehen. Aber nur, weil man sie nicht mehr vor der Nase hat, sind sie eben doch nicht weg. Zum Glück sind sie nicht weg, denn ansonsten würde ja die Lieferkette für die meisten unserer Konsumgüter zusammenbrechen. Also: Die Lieferkette ist da, sie funktioniert, aber wir wollen nicht alle Glieder der Kette kennen und erst recht nicht sehen. Wobei zum Beispiel die Managementnorm ISO 9001 genau das, wenn auch mittelbar, einfordert: Die Erwartungen und Bedürfnisse der interessierten Parteien. Grundsätzlich sind alle Glieder einer Lieferkette eine sehr wohl interessierte Partei!
Und jetzt wird es schwierig: Wenn wir nun wieder auf den Massenmörder Eichmann blicken, dann war genau das seine Argumentation: Er war eigentlich nur für einen Teil der Funktionalität der monströsen Kette zuständig und damit verantwortlich.
So etwas darf nicht sein. Und nur, um das nochmal klarzustellen: Es geht hier nicht im Geringsten darum, das eine mit dem anderen gleichzusetzen! Was 1933 bis 1945 passiert ist, ist und bleibt singulär monströs! Was ich aber – vielleicht nicht gleichsetzen, aber dennoch – parallel setzen möchte: Den zu postulierenden Gedanken der (Mit-)Verantwortung fürs Ganze.
Das Lieferkettengesetz – was es ist
Das Lieferkettengesetz setzt nun den Gedanken der Mitverantwortung fürs Ganze in einem – wie der Name schon sagt – Gesetz um. Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, aber es wird wohl so kommen.
Demnach werden Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten ab 2023 dafür die Verantwortung übernehmen müssen, dass es bei ihren direkten Zulieferern zu keinen Menschenrechtsverletzungen kommt. 2024 werden dann auch Unternehmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten in die Verantwortung genommen.
Für die weiteren Glieder der Lieferkette soll es ein abgestuftes Verfahren geben. Unternehmen müssen dann tätig werden, wenn sie von Menschenrechtsverstößen bei ihren Zulieferern erfahren. Und die Rechte der betroffenen Menschen sollen dadurch gestärkt werden, dass sie sich vor deutschen Gerichten von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vertreten lassen können.
Damit soll eingedämmt werden, was so hätte eigentlich nie passieren dürfen: So sind zum Beispiel alleine 73 Millionen Kinder von ausbeuterischer Arbeit betroffen (Angabe über das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Zugriff: 02/2021).
Und natürlich geht es nicht nur um Menschenrechtsverletzungen: Es geht um Natur und Klima, um Arten und Tierwohl – kurzum: Es geht um alles!
Die Banalität der Effizienz: Über Moral und Verantwortung
So stellt der deutsche Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller ganz einfach, aber zutreffend fest: „Die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Kinderarbeit darf nicht zur Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstandes werden.“ Dabei hat er zum Teil Recht. Im anderen Teil spricht er davon, dass es etwas „nicht werden darf“. Wo aber längst schon alles so ist. Richtigerweise müsste er sagen: Darf nicht weiter sein. Das Lieferkettengesetz ist ein Teil davon. Kann ein Teil davon sein. Muss ein Teil davon sein.
Es geht um, und hier darf ich Hannah Arendt wieder mit ins Spiel bringen, die Überwindung der Banalität. Die Banalität, verstanden als unerlaubte Verkürzung oder Vereinfachung, die sodann eine Reflexion übers Ganze nicht nur vergisst, sondern aktiv ausblendet. Damit sind wir bei einer Art Banalität der Effizienz. Eine erreichte Effizienz, die es eben so nicht geben dürfte. Schweine in engen Buchten, Hühner in Legebatterien, angekettete Kühe im Stall. Plastik im Meer und in den Fischen, brennende Regenwälder, Artensterben in Flora und Fauna, immer höherer Energieverbrauch, immer höherer CO2-Ausstoß – die Liste könnte geradezu unendlich fortgeführt werden. Und alles hängt mit allem zusammen.
Und nun sieht man, dass das Lieferkettengesetz nur einen Teil abdecken kann. Es ist ein wichtiger Schritt. Aber eben nur einer. Einer – wahrscheinlich – in Deutschland. Wir brauchen aber alle!
Das Lieferkettengesetz – und wer noch?
Wenn ich in Anlehnung an Hannah Arendt von der Banalität der Effizienz spreche, dann geht das nicht nur die Unternehmen etwas an. Dann ist das unser aller Sache! Rigoros. Mit dem Finger auf die Politik oder auf die Unternehmen zu zeigen, reicht nicht mehr aus. Das hat eigentlich auch noch nie ausgereicht. Wir müssen uns selbst als Konsumenten mal etwas näher betrachten. Und vielleicht müssen wir dann nicht von der Banalität der Effizienz, sondern von der Banalität der geringen Kosten sprechen. Die Kosten sind gar nicht gering. Sie sind hoch, aber sehen wollen wir sie nicht. Weil andere dafür zahlen. Noch.
Verbraucher und Konsumenten haben immer wieder punktuell bewiesen, dass sie Konzerne in die Knie zwingen können. Aber das geschah immer zu einem kleinen Preis. Man kaufte halt woanders. Aber gekauft hat man. Verzichtet hat man nicht. Und das will man auch heute noch nicht. Vielleicht müssen wir das auch nicht. Vielleicht müssen wir nur anders nachhaken, bewusster konsumieren, mehr reflektieren. Und dann danach handeln – und zahlen! Erkennen, dass die Kosten und damit der Preis eben nicht sind!
Nun wird es darauf ankommen, die Intention des Lieferkettengesetzes für Unternehmen für einen selbst zu verstehen. Und „verstehen“ schließt die eigene Handlungskompetenz und -konsequenz mit ein. Sonst hat man nichts verstanden. Und wenn ich hier von „man“ spreche, dann meine ich uns. Auch ich mich selbst.
Rekursive Lieferkettenreaktion
Wir müssen die Lieferkette von hinten betrachten. Denn eines steht ja immer fest: Am Anfang einer Lieferkette steht ein Mensch, der zum Beispiel unter erbärmlichen Bedingungen Kobalt abbaut. Ein Mensch! Und am Ende der Lieferkette steht wieder ein Mensch. Der ein Elektroauto kauft. Und ein gutes Gefühl dabei hat. Der Mensch am Anfang der Lieferkette hat die geringste Macht. Der Mensch am Ende der Lieferkette die größte. Dazwischen die Unternehmen. Also kann es nur so sein, dass die Kette, einer Dominosteinreihe ähnlich, von hinten aufgerollt wird. Durch uns. Und zwar durch uns alle, als Konsument, als Mitarbeitende, als Unternehmerinnen und Unternehmer. Insofern ist das Lieferkettengesetz nicht nur ein Gesetz, sondern viel mehr ein gesellschaftliches Postulat an uns alle. Es muss eine neue ganzheitliche Qualität geschaffen werden.
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