Der Kunde – Das Wesen(tliche)
Ich war in einem Seminar, an dem auch ein Priester teilnahm. Er stellte dann irgendwann die Frage, wer bei ihm eigentlich der Kunde bei einer Beerdigung sei. Eine sehr interessante Frage.
Ich, der Standuhr-Kunde?
Vor einiger Zeit ging ich mit meiner Frau in Berlin im Nikolaiviertel spazieren. Man könnte auch bummeln sagen. Ein bisschen ohne Ziel, die freie Zeit genießend. Wir schlenderten von Schaufenster zu Schaufenster und kamen dabei an einem Geschäft für exklusive Wohnraumuhren vorbei. Dort blieben wir stehen. Wir betrachteten die ausgestellten Uhren und mich interessierte von all diesen Uhren tatsächlich keine einzige. Auch meine Frau war an keiner dieser enorm großen Uhren interessiert. Aber zum Betrachten waren sie wiederum faszinierend. Deswegen blieben wir etwas länger stehen.
Und da kam der Verkäufer oder Inhaber – ich weiß es nicht – aus seinem Uhren-Geschäft, begrüßte uns auf eine wunderbar freundliche Art und Weise und begann mit uns ein Gespräch über Uhren, über sehr große Uhren; auf dem Bürgersteig vor dem Schaufenster. Er erzählte uns etwas über die Geschichte von Standuhren und über moderne Standuhren, über Technik und Exklusivität und Zusatzfeatures. Er konnte tatsächlich unser Interesse wecken und er bat uns in sein Geschäft. Wir folgten ihm. Wir waren plötzlich von schlendernden Bummlern zu potenziellen Kunden geworden.
Wer ist Kunde?
Man könnte jetzt dagegenhalten, dass ich ja noch keine Uhr gekauft hätte und dementsprechend auch noch kein Kunde sei. Das könnte man. Aber es wäre falsch. Das Wesen fängt schon an Kunde zu werden, wenn es diese Uhr kaufen könnte. Und da waren wir nun mal dran – wenn auch nicht nahe und auch wenn wir das nicht wollten. Aber wir standen plötzlich in diesem Geschäft mit großen Uhren und zum Teil noch größeren Gongs.
Wer ist also Kunde?
Die Frage, wer eigentlich Kunde ist und wer nicht, gibt es schon lange. Sie wird auch immer wieder dort gestellt, wo es wirklich nicht ganz so einfach ist. Nehmen wir den Kindergarten. Wer ist Kunde des Kindergartens? Die Eltern? Die Kinder? Die Kommune? Die Gesellschaft? Es ist ganz einfach: Es ist immer die Person, die eine Leistung empfängt oder empfangen könnte. Das sagt die „Begriffe-Norm“ ISO 9000. Genau sagt sie Folgendes: Der Kunde ist eine „Person oder Organisation, die ein Produkt oder eine Dienstleistung empfängt oder empfangen könnte, welches oder welche für diese Person oder Organisation vorgesehen ist oder von ihr gefordert wird.“ Das ist nun mal das Kind. Oder meine Frau und ich im Standuhrladen. Die Uhren waren für Menschen wie mich vorgesehen. Ich wusste es bis dahin nur nicht.
Ich war in einem Seminar, an dem auch ein Priester teilnahm. Er stellte dann irgendwann die Frage, wer bei ihm eigentlich der Kunde bei einer Beerdigung sei. Ihm selbst sei die Antwort klar. Systemisch scheint sie aber angezweifelt zu werden. Während die allgemeine Welt meint, dass der Kunde auf jeden Fall der Angehörige sein muss, der die Beerdigung in Auftrag gegeben hat, so ist der Priester anderer Meinung. Für ihn in seiner Bindung zu Gott ist der Verstorbene, also der zu Beerdigende der die Leistung in Anspruch Nehmende: Der Priester als Reisebegleiter auf dem Weg nach … oder in den … wer weiß das schon. Aber er hat wohl mit seiner Ansicht recht. Anders sieht es vielleicht beim Bestatter aus. Vielleicht.
So einfach die Frage nach dem Kunden zu sein scheint, so schwierig scheint sie zu werden, wenn man nach dem eigentlichen Wesen des Kunden fragt.
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Der Wunsch des Kunden
Der Kunde ist eine Person, die eine Dienstleistung empfängt oder empfangen könnte, welche für diese Person oder Organisation vorgesehen ist oder von ihr gefordert wird. Das liest sich schlüssig und nachvollziehbar. Was aber, wenn der Kunde eine Leistung empfängt, die für ihn auch vorgesehen ist, die er aber gar nicht will? Und zwar keinesfalls. Nehmen wir die zu einer Haftstrafe verurteilte Person. Wir haben hier plötzlich einen „Kunden“, der nach ISO 9000 definitiv ein Kunde ist, es aber wahrscheinlich nicht sein möchte. Ist es möglich, hier von einem Kunden zu sprechen?
Es ist nicht nur möglich; es ist notwendig! Denn wenn wir im Rahmen von Qualität uns Gedanken machen, dann brauchen wir klare Begrifflichkeiten – auch für Graubereiche. Nicht jeder Kunde ist die Person, die sich einen Friseurladen frei aussucht und freiwillig einen selbst gewählten schönen Haarschnitt verpasst haben möchte. Ob der Haarschnitt dann so wird wie gewünscht: Wir werden das im nächsten Abschnitt noch zu klären haben. Es gibt eben auch Kunden, die eine Leistung in Anspruch nehmen müssen, auch wenn sie das tunlichst vermeiden wollen. Eventuell könnten hier auch Steuerzahler beim Finanzamt oder Schüler in der Schule als weitere Beispiele genommen werden. Es gibt Graubereiche, wenn man das herkömmliche Verständnis von „Kunde“ im Hinterkopf hat.
Also: Wir haben auf der einen Seite den Kunden, der eine Leistung oder ein Produkt haben will – oder es haben wollen könnte. Das passt soweit, denn hier haben wir einen (möglichen) Kundenwunsch, den es zu erfüllen gilt. Und dann haben wir auf der anderen Seite den Kunden, der eine Leistung oder ein Produkt verpasst bekommt – ob er das nun will oder nicht. Hier haben wir eher ein „hier werden Sie fremdgewünscht“. Ziel ist es nun, dass der Kunde zufrieden ist. Genau das dürfte nicht nur manchmal schwierig werden.
Der zufriedene Kunde
Wenn ich eine Standuhr haben will und ich kann eine solche erstehen, dann ist das die erste Voraussetzung für meine sich einstellende Zufriedenheit. Ganz zufrieden muss ich deswegen aber noch nicht sein. Denn nicht nur die Tatsache an sich, dass ich nun eine sehr große Uhr mit einem wahrscheinlich großen Gong mein Eigen nenne, ist entscheidend. Es geht um viel mehr, wenn wir von Zufriedenheit sprechen. Es geht um die Erfüllung von Erwartungen; und diese können vielfältig sein und sind es zumeist auch.
Angenommen, Sie kaufen sich eine Bio-Ins-Quadrat-Matratze mit Sumpfgrasfüllung und Algenmantel. Die Matratze bietet Ihnen einen hervorragenden Liegekomfort – aber sie riecht nach Sumpf und Moder. Und schon hatten Sie eine Erwartung an die Matratze, die eher nachträglicher Natur ist: Nämlich, dass sie geruchsneutral ist. Eine modernde Matratze trägt grundsätzlich mal nicht zur Zufriedenheit bei.
Es gibt aber auch noch andere Aspekte bei der Zufriedenheit des Kunden. Nennen wir sie die „Gesamtsituation“. In einem Arbeitskreis, an dem ich vor längerer Zeit mitwirkte, war ein Qualitätsmanager aus einer Amputationsklinik beteiligt. Er meinte aus seiner Praxis heraus, dass es bei ihm grundsätzlich schwierig wäre, zufriedene Kunden zu haben. Weil die Amputation an sich einfach keine so tolle Sache sei – auch wenn sie vielleicht handwerklich mit einer 1A-Güte durchgeführt wird. Der Betroffene wird trotzdem mit seiner Gesamtsituation unzufrieden sein und dies auch zum Ausdruck bringen.
Es sollte aber auch schon mitgedacht werden, was der Kunde erwarten könnte, was er aber nicht explizit als Anforderung formuliert. Ein Beispiel wäre der Sitzplatz in einem Kino. Niemand würde sich Herr der Ringe im Stehen anschauen wollen, weil das Kino zwar viele Karten verkauft, aber nur eine sehr begrenzte Anzahl von Sitzplätzen hat. Niemand möchte auch in einem nach Sumpfgras riechenden Kino sitzen, auch wenn dies sehr unwahrscheinlich ist. Das alles formuliert der Kunde nicht explizit, aber er erwartet genau das.
Der Standuhrverkäufer hat es da um einiges einfacher, wenn es um Qualität und Kundenzufriedenheit geht. Aber auch nicht zu einfach. Obwohl keine der Standuhren im Nikolaiviertel nach Sumpfgras gerochen hat: Ich habe keine gekauft. Und ich war damit tatsächlich auch nicht zufrieden – weil ich den Verkäufer einfach klasse fand. Aber eine große, eine sehr große Uhr zu kaufen wegen des Verkäufers? Das ist doch auch keine Lösung. Es ist wirklich nicht einfach mit dem Kunden.
Es ist noch nicht einmal einfach mit mir selbst.
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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.