Die Digitale Transformation – Die 23 richtigen Fragen

Was Digitalisierung in der Praxis nicht bedeutet: Ein Papier einzuscannen und als pdf abzuspeichern. Das ist keine Digitale Transformation. Noch nicht einmal fast.

  

Digitale Transformation – was es ist

„Ab Montag werden wir jetzt auch digitalisieren.“ Das ist ein guter Ansatz. Ob er zum Ziel führt – wie immer dieses auch geartet sein könnte – lassen wir einfach mal dahingestellt. Hauptsache es wird etwas gemacht mit Digitalisierung. Irgendwas. Und es macht die IT. Weil Digitalisierung mit IT zu tun haben scheint. Was heißt „scheint“? Digitalisierung ist IT. Soweit, so falsch.

Digitalisierung ist zwar kein fundamental neues Thema mehr, aber es hat massiv an Fahrt aufgenommen und es entert plötzlich Branchen, die sich fern von Einflüssen und Prozessen der Digitalen Transformation wähnten. Heute sind sozusagen alle eines besseren belehrt. Belehrt heißt aber nicht zwingend, dass bereits praktische Konsequenzen gezogen worden wären.

Was Digitalisierung in der Praxis nicht bedeutet: Ein Papier einzuscannen und als pdf abzuspeichern. Das ist keine Digitale Transformation. Noch nicht einmal fast. Aber sie ist auch kein Mysterium. Schon lange nicht mehr. Wenn wir uns zurückerinnern, wie das mit den Hotelbuchungen früher war: Man suchte Hotels, dann deren Telefonnummern und dann hat man dort angerufen. Und dann war vielleicht noch ein Zimmer frei; vielleicht aber auch nicht. Wie die Zimmer aussahen, welche Lage das Hotel hat und so weiter: Man musste fragen, recherchieren über Broschüren, Reisebüros etc.

Heute hat man vom Sofa aus praktisch alle Hotels der Welt in der Hand – inklusive Verfügbarkeit, Lage, Bilder von den Zimmern, Bewertungen. Wenn alles passt, dann wird dort gebucht. Das heißt: Ich habe Zugriff auf alle für mich relevanten Daten und kann darauf gründend handeln. Direkt. Das ist Digitale Transformation. Der Prozess ist aufgrund der Datentransparenz und -verfügbarkeit ein völlig anderer geworden im Vergleich zu vorher.

 

Die verwaiste Hotelrezeption

Die Grundlage für diese Transformation ist also, dass die aktuellen Hoteldaten nicht mehr an der Hotelrezeption beim telefonierenden Rezeptionisten verortet sind. Die Belegungsdaten sind für jeden verfügbar. Wenn ich will, dann kann ich die Daten verschiedener Hotels nach Verfügbarkeit, Lage und Preisen kopieren, neben- oder übereinanderlegen und vergleichen. Und durch meine Buchung verändere ich die Hoteldaten. Oder jemand anderer hat gerade jetzt die Datenlage durch seine Buchung verändert („Nur noch ein Zimmer verfügbar!“) – das Netz macht es möglich. Und selbstverständlich weiß ich, dass das „Nur noch ein Zimmer verfügbar!“ eine Kaufentscheidung beeinflussende Werbemaßnahme darstellt. Doch kann ich sicher sein? Kann ich nicht. Es ist völlig naheliegend, dass das System weiß, dass es nur noch ein Zimmer zur Verfügung hat und genau das dem Netz dann auch mitteilt; verbunden mit dem Hinweis: „Dieses Zimmer sehen sich momentan noch weitere 29 User an“. Achherrje.

Digitalisierung bedeutet also in Kürze: Wir haben es mit entorteten, stets verfügbaren, vernetzten, kopier- und veränderbaren Daten zu tun. Vernetzt bedeutet dabei: Die Beeinflussung der Daten kann aus allen Richtungen derjenigen kommen, für die die Daten verfügbar sind. Diese Stakeholder-Prämisse macht Digitalisierung und die Digitale Transformation komplex. Und die Hotelrezeption ist nun verwaist?

 

Die Chance der verwaisten Hotelrezeption

Wenn man als Unternehmer ungeschickt ist, dann ist das der Fall. Wenn man Richard David Precht heißt und eloquenter Allwetterintellektueller ist, dann sind bald alle Rezeptionen verwaist und es wird Millionen an Arbeitslosen geben. Er warnt vor einer Massenarbeitslosigkeit, wie sie die Bundesrepublik Deutschland noch nicht erlebt hat. Sein neues Buch zeichnet dieses spekulative Szenario.

Wenn man als Unternehmer geschickt ist und Prechts Schreckgespenster nicht einfach fatalistisch hinnimmt, dann birgt die Digitale Transformation aber unermessliche Chancen einer Qualitäts- und Dienstleistungssteigerung. Denn der Mensch wird von Routinetätigkeiten entlastet und kann sich in Bezug auf seine Stakeholder genau darum kümmern, was das System nicht kann: Kreativer, menschlich geprägter, stets weiterentwickelter Service. Qualitätsverbesserung und Innovation kann eigentlich keinen besseren Nährboden haben. Aber: Das gilt nur für geschickte Unternehmer. Andere sehen nur das Sparpotenzial.

 

Digitale Transformation – wie es geht

Ganze Beraterhorden haben sich schon lange auf den Weg gemacht, um Unternehmen zu zeigen, wie Digitale Transformation geht. Unternehmen greifen darauf wiederum gerne zurück, weil sie sich bei diesem Thema schlichtweg überfordert fühlen. „Lassen Sie uns mal für die Mitarbeitenden Tablets kaufen!“ Wozu? Naja, ein Anfang wäre damit schon mal gemacht. Nein, ist er nicht. Tablets kaufen ist  auch keine Digitale Transformation. Wie geht es aber dann?

Es gibt grundsätzlich keinen einheitlichen Fahrplan, den es einfach nur umzusetzen gilt. Die Digitale Transformation eines Unternehmens benötigt keine Handlungsrezepte, sondern viel mehr die richtigen Fragen. Diese wurden zum Beispiel von Heads Executive Consultancy and Deloitte 2015 herausgearbeitet und in der Studie „Survival through Digital Leadership“ veröffentlicht. Sie unterscheiden dabei in vier Phasen der Digitalen Transformation, die hier nun kurz vorgestellt werden sollen.

 

Phase 1: Bewusstsein für Digitale Transformation

Jede Organisation sollte sich die Frage stellen, was in der Vergangenheit in der eigenen Branche passiert ist oder was derzeit passiert? Hat sie sich verändert? Verändert sie sich gerade jetzt? Zeichnen sich Veränderungen ab? Die bekannteste Managementnorm ISO 9001:2015 stellt genau diese Fragen an den Anfang eines jeden Managementsystems: In welchem Kontext bewegen wir uns? Dieses gilt es mit Bezug auf das eigene Unternehmen regelmäßig zu prüfen, zu überwachen: Was hat sich bei uns getan? Welche technologischen Entwicklungen, digital oder nicht digital, gibt es und wie könnten sie Einfluss auf die eigene Organisation haben?

Diese sieben Fragen sollte, vielleicht muss sich jede Organisation stellen. Aber nur dann, wenn sie überleben will – in Anlehnung an Edward Demings berühmtestes Zitat.

 

Phase 2: Wahrnehmungen zur Digitalen Transformation

Nach der Bestandsaufnahme geht es um die Fragen der Einflüsse auf die eigene Organisation: Welche Gefahren drohen der eigenen Branche oder der eigenen Organisation, welche Risiken entstehen daraus? Was könnte unternommen werden, um die Risiken zu minimieren oder gar zu eliminieren? Wie viel Zeit darf dafür noch maximal vergehen? Was könnten die nächsten Schritte sein und wer soll dafür die Verantwortung tragen? Dass dabei nicht nur der IT-Abteilung der Hut aufgesetzt werden sollte steht außer Frage. Die sechs Fragen müssen ihre Antworten im gesamten Unternehmen finden.

Auch hier hilft wiederum die Managementnorm ISO 9001. Es ist laut dieser notwendig die Rollen und die Befugnisse im Unternehmen klar zu definieren. Wenn es um die Digitale Transformation eines Unternehmens geht, dann können aber schwerlich alle notwendigen Befugnisse dafür bei der IT-Abteilung liegen – es sei denn, dass dort auch der CEO angesiedelt ist. Dann ginge es.

 

Phase 3: Digitale Transformation

Es geht an die Umsetzung. Hier stellt sich nun die Frage, wer der digitale Pacemaker sein soll: Sach-/Fachverstand, Reflexionsvermögen und Begeisterungsfähigkeit inklusive. Wer könnte in der eigenen Organisation die dafür geeignete Person sein – oder Personen? Und wie kann es der Organisation gelingen, nach und nach eine Unternehmenskultur zu schaffen, die die Mitarbeitenden motiviert und befähigt, mit neuen Lösungen, neuen Technologien oder gar neuen Geschäftsmodellen umzugehen? Dass ein Unternehmen immer vom Engagement der Mitarbeitenden getragen wird muss nicht weiter ausgeführt werden. Dies betrifft vielleicht die Digitale Transformation noch stärker als andere Themen.

Von den Personen zum Material: Welche Technologien (Netzwerke, Hard-/Software, Cloud, Webanwendungen …) sind nötig, um die Digitale Transformation im eigenen Unternehmen umsetzen zu können. Hier könnten dann tatsächlich die oben genannten Tablets wieder eine Rolle spielen.

Diese vier Fragen finden sich auch hier wieder: Die Managementnorm ISO 9001 fordert geeignete Informations-und Kommunikationstechnologien als Ressourcen, um die Ziele der Organisation umsetzen zu können. Und ebenso zielt sie ab auf die grundlegende Unternehmens- und Qualitätspolitik im Verantwortungsbereich der Führung und die Verwirklichung dieser über das Bewusstsein der Mitarbeitenden.

 

Phase 4: Digitale Transformation und Innovation

Die Digitale Transformation kann gestartet, aber im Grunde genommen nie beendet werden. Sie wird wohl nie abzuschließen sein. Insofern stellen sich auch hierzu wieder Fragen, die es von der Organisation aufzugreifen gilt: Wie kann eine Unternehmenskultur weiterentwickelt werden, so dass Verantwortlichkeiten selbstverständlich übernommen, entrepreneurhafte Engagements gestärkt und Ideen und Innovationen forciert werden? Wie kann permanente Veränderung etabliert werden? Auf welche Art und Weise kann sich die Organisation nach innen und auch nach außen vernetzen, um „am Puls der Zeit“ zu bleiben? Wie kann die vielzitierte Social Collaboration im eigenen Unternehmen verselbständigt werden? Sechs Fragen suchen nach Antworten.

 

Digitale Transformation übers Ziel hinaus

Die Digitale Transformation ist umfassend und bereits im vollen Gange. Das ist überall zu erleben. Und wir als Kunden haben uns schon längst daran gewöhnt. Viele Unternehmen haben das noch vor sich – obwohl sie Mitarbeitende haben, die als Kunden auf der anderen Seite der Rezeption genau das schon längst erwarten und fordern. Dieses Potenzial gilt es nun zu erkennen und zu nutzen.

Apropos Rezeption: Vor kurzem habe ich in einem mir bekannten Berliner Hotel angerufen, da ich überraschender Weise am gleichen Tag dort noch übernachten musste:

„Haben Sie für heute Nacht noch ein Zimmer frei?“

„Ja, nicht mehr viele, aber wir haben noch welche.“

„Könnten Sie mir dann bitte ein Zimmer reservieren? Ich bin in circa drei Stunden bei Ihnen.“

„Oh, tut mir leid. Das kann ich nicht, weil es zu kurzfristig ist. Sie müssten bitte über hrs buchen.“

Auf hrs sah ich dann: „Es ist noch ein Zimmer frei! 29 User sehen sich jetzt genau in diesem Moment dieses Zimmer an!“ Schweißperlen auf der Stirn. Ich habe sofort alle Formulare ausgefüllt, Kreditkartennummern eingegeben, bestätigt, und YES!!! Ich war der Sieger! Das Zimmer habe ich bekommen, die anderen 28 User nicht. Nehmt das Ihr Looser!!! Strike!!!

Es ist eben nicht gesagt, dass Digitalisierung alles einfacher oder gar niveauvoller macht.

 

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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.