Tiefe vs Oberfläche – Wolf Lotter als Innovations-Tauchlehrer
Wolf Lotter schaut in seinem Buch hinter die ganz großen Kulissen, vor denen oftmals Innovation in ganz kleinen Stücken praktiziert, manchmal auch nur gespielt, in der Hauptsache aber ignoriert oder gar verhindert wird.
Was?
Ein Buch geht um in Deutschland – Wolf Lotters signalgelbe Streitschrift für barrierefreies Denken: Innovation. Es ist ja nicht so, als gäbe es nicht schon genügend Bücher über Innovation und Innovationstools und Innovationsreagenzgläser und Brutkästen und Labs mit Kickern und so fort. Einige davon habe ich auch rezensiert (siehe hier).
Bewusst wählt Wolf Lotter hier den Begriff der „Streitschrift“, weil es um etwas viel Größeres geht als etwa nur um ein neu erfundenes Werkzeug, welches man zwar auf drei Seiten erklären könnte, es dann aber doch lieber ausschweifend in Buchform macht. Das ist hier nicht das Thema. Lotter schaut in seiner Schrift hinter die ganz großen Kulissen, vor denen oftmals Innovation in ganz kleinen Stücken praktiziert, manchmal auch nur gespielt, in der Hauptsache aber fataler Weise ignoriert oder gar verhindert wird. Er schaut in die Asservatenkammer der deutschen Wirtschaftsgeschichte, aus der sich nachvollziehbarer Weise eine bestimmte unsere Kultur – und zwar inner- und außerbetrieblich, also gesamtgesellschaftlich – entwickelt hat. Dabei stellt er fest, dass uns diese Kultur in ihrer besonderen Ausprägung „Wohlstand“ gut getan hat, aber diese sich nun auch gegen uns wendet. Und genau hier liegt die Herausforderung der Zukunft: Es geht nicht um das vielpropagierte und bunt eingerichtete Innovation-Lab, sondern es geht um die Welt, in der derartige Innovation-Labs stehen. Denn Labs sind Oberfläche.
Wie?
Aus und in vielen Analogien und Anleihen aus den verschiedensten Disziplinen aus Vergangenheit und Gegenwart seziert der Autor die Zusammenhänge, die Innovation in unserer Gesellschaft, in unserem Denken jetzt und heute so schwierig, ja geradezu unmöglich machen. Dabei kehrt er doch tatsächlich an einer Stelle bis zu Adam und Eva zurück; wenn auch nur symbolisch. Er taucht ein in die offensichtlichen und vor allem in die weniger offensichtlichen Zusammenhänge – und das alles weit unterhalb der Oberfläche.
Dann setzt er, ganz im Sinne des berühmten „(Selbst-)Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“, die entsprechenden – seine – gesellschaftskritischen Entwürfe dagegen. Und damit will er nicht (nur die) Innovationsmanager, Führungskräfte und vielleicht Unternehmenslenker, sondern vor allem uns alle als Mitglieder einer industriell erfolgsgeprägten Gesellschaft wachrütteln, zum Nach- und Selbstdenken anregen und dann mittelbar zum Handeln zwingen – als unbestreitbares Postulat ausgehend aus einer nun vor uns liegenden aufbereiteten Kausalität.
Dies gelingt ihm durch die erreichte große Tiefe seiner Streitschrift – die ich zu keiner Zeit als belehrend oder persönlich anklagend gelesen habe. Denn nicht zuletzt positioniert sich der Autor selbst nicht außerhalb des Geschehens. Es betrifft uns alle, also auch ihn. Und deswegen verfasst Wolf Lotter seinen Text in einer Sprache, die auch alle verstehen – ohne bedeutungsschwangeres Managementgeschwurbel.
Zum Beispiel?
Zwei Stellen möchte ich im Rahmen dieser Rezension wiedergeben, da sie die Bandbreite des Lotter´schen Denkens widerspiegeln.
„Einst trieb Innovationsdenken die Industrien an. Die Fähigkeit, es anders und besser zu machen, hat den Wohlstand geschaffen. Heute erlebt ausgerechnet die daraus entstandene Kultur ihre Herkunft als Bedrohung.“ (S. 36)
„Das System des Mittelmaßes, bei dem Talent mit Angepasstheit verwechselt wird, funktioniert wie der Abbau unter Tage. Man muss immer tiefer runter, immer weiter buddeln. Am Ende ist die Organisation voller talentfreier Systemerhalter, die sich aber immerhin relativ einfach organisieren lassen, weil sie tun, was man ihnen sagt, solange es nicht zu anspruchsvoll ist. Die Lehre daraus lautet: Der Durchschnitt hält nicht die Norm, er zieht alles nach unten. Kein Wunder, dass sich so viele davor fürchten, von Robotern ersetzt zu werden. Nicht zu viel künstliche Intelligenz bedroht uns, sondern zu wenig natürliche.“ (S. 180)
Sätze, Abschnitte und Gedankengänge wie diese finden sich nahezu auf allen Seiten. Das gesamte Buch liest sich nicht nur wie ein Zitatenschatz, sondern viel mehr gleich als ganze Zitatenschatzkiste. Dazu passt es, dass sich auf vielen Seiten besonders hervorgehobene Textabschnitte befinden. Es macht das Suchen einfacher, es ersetzt es aber nicht.
Und jetzt, Wolf Lotter?
Insofern: Es gibt schon sehr viele Innovationsbücher, die zu großen Teilen ihre Berechtigung haben. Diese Streitschrift rüttelt aber an den Fundamenten, auf denen manch andere Bücher zum Thema aufgebaut sind und die meisten im Vergleich dazu noch nicht einmal schön anzuschauende Stuck-Ornamente darstellen. Das macht Lotters Schrift außergewöhnlich – und notwendig zu lesen. Sie ist nicht nur einfach an der Tastatur geschrieben, sondern viel mehr lautmalerisch geradezu in die Tasten geschlagen. Man spürt die Inbrunst, die Leidenschaft Lotters. Eine Streitschrift eben. Für barrierefreies Denken. Wolf Lotter hat dazu schon mal das Tor aufgerammt. Durchgehen müssen wir nun selbst.
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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.