Wahrheit und Dichtung: Es ist passiert!

Die Wahrheit ist unidentifizierbar geworden. Es ist passiert! Ein Fluch? Das scheint untertrieben.

 

Haben Sie das gesehen?   

Haben Sie es bei sich auch schon bemerkt? Ich habe es in den letzten Wochen so nach und nach für mich erkennen müssen. Und „ungut“ ist noch nicht einmal ansatzweise das, wie ich es beschreiben möchte. Fangen wir mal so an:

Haben Sie das gesehen: Wie die europäischen Staatenlenker und -lenkerinnen im Weißen Haus vor der Tür des amerikanischen Präsidenten saßen und auf das Ende des Gesprächs mit dem ukrainischen Präsidenten warteten? Ähnlich einer überfüllten Arztpraxis? Oder haben Sie die mittels einer Nachtsichtkamera auf einem Trampolin springenden Kaninchen gesehen? Oder haben Sie das gesehen: Wie Jens Spahn in einem Krokodilkostüm „Schni-Schna-Schnappi“ lauthals singt, während er durch die hellerleuchtete Fußgängerzone von Pjöngjang marschiert? Nein, haben Sie nicht? Nun: Letzteres habe ich auch noch nicht gesehen. Aber wollten wir es: Wir – also wir alle! – könnten es innerhalb weniger Minuten sichtbar machen. Als Bild. Als Video. Kein Problem. Nano Banana sei Dank! Übrigens: Die ersten beiden Beschreibungen gibt es als Bild (Weißes Haus) und als Video (Kaninchen). Ist das jetzt ein Problem? Ja, ein gewaltiges!

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“,

… das kennt man und darauf hat man sich relativ lange verlassen. Was man mit eigenen Augen gesehen hat, das war dann wohl auch die Wahrheit. Und wenn es nicht die Wahrheit war, dann war es meistens auch eindeutig als „Nicht-Wahrheit“, also als Dichtung – wenn wir schon im Land der Dichter und Denker leben – erkennbar. Auch wenn ich großartige Aufnahmen und Geschichten aus der Zaubererschule Hogwarts oder den Angriff der Orks auf Minas Tirith mit eigenen Augen gesehen habe: Das war im Kino und hochkarätige Expertinnen und Experten haben diese Visionen mit riesigem Aufwand visualisiert. Mit Photoshop schafften es Boulevardzeitungen, meistens weit entfernt von einer auch nur ansatzweisen Professionalität, zwei oder drei Bilder in ein Bild zusammenzukleistern, um daraus dann eine Schlagzeile „Helene Fischer in Todesangst“ zu machen: Im Hintergrund Helene Fischer auf einer Eisscholle zusammen mit einem Eisbär, während ein 700 Jahre alter etwas greiser Grönland-Hai auf sie zuschwimmt. Das ist Unterhaltung.

Heute kann das alles die sogenannte Künstliche Intelligenz, für die die Anwenderinnen und Anwender selbst aber gar nicht so viel eigene Intelligenz und kaum Zeit brauchen. Und genau deswegen ist nun meine Befürchtung, die ich in vielen meiner Vorträge zum Thema „Digitalisierung“ formuliert habe, eingetreten. Es gibt aber auch Lösungen.

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Wahrheit oder Dichtung? (Bild: Gaetano Belissima auf Pixabay)

 

Wahrheit über dem Abgrund 

Im Grundsatz geht es immer um Informationen. Der eine erstellt sie, andere stellen sie zur Verfügung und die andere nimmt sie wahr und geht – bei Interesse – in Resonanz mit diesen Informationen. Ausgangspunkt sind die mit welcher Absicht auch immer erstellten Informationen durch Menschen. Sie schreiben Texte, sie machen Aufnahmen, sie stellen Zusammenhänge her. Diese sollen die bestmöglich erreichbare Wahrheit darstellen. Die herausragende Profession dafür war für lange Zeit der Journalismus. Noch besser der sogenannte „Qualitäts-Journalismus“. Der Zusammenhang Fischer, Eisbär und Grönlandhai spielt hier übrigens keine Rolle. Gar keine. Las man also Texte oder sah man Aufnahmen in „Qualitätsmedien“, dann konnte man grundsätzlich von der Wahrheit ausgehen. War und ist dem mal im Nachhinein erkannt nicht so, dann musste und muss es Richtigstellungen oder gar Untersuchungen zur Aufklärung geben. Der „Fall Relotius“  ist dafür nur ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit. Aber heute?

Das Internet mit all seinen Plattformen hat neben dem grundsätzlich abgesicherten Wahrheitsmodus viele weitere parallele Modi zugelassen, gefördert und ins Unendliche verbreitert. Trumps „Alternative Fakten“ haben der Wahrheit ein Gegenkonzept gegenübergestellt, was als völlig absurd bewertet werden kann. Aber „Trump“ kann schon lange jede und jeder; seit einigen Monaten nun auch hochprofessionell belegend, zumindest was das Handwerkliche betrifft. Denn das wurde nun an die verschiedenen Bots outgesourct und diese produzieren aufgefordert gewünschten „Content“. Die Information mit einem hohen Grad an Wahrheit verwässert oder geht gar unter als einfach nur weiterer Content in der Contentflut. „Content“! Was für ein passender Begriff!

 

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Fluch und Fluch und kein wenig Segen  

Das, was passiert, was wirklich ist, ist nicht mehr relevant. Content wird jenseits der Realität mit höchstem Realitätsanschein produziert und als Realität verkauft – gegen Geld, zumindest aber gegen Aufmerksamkeit. Und das in einer Fülle und Breite, dass ein notwendiger Überblick verloren geht. Karl Valentin meinte einmal, dass es schon seltsam sei, dass an einem Tag immer genau so viel passiert, dass es am nächsten Tag in die Zeitung passt. Nun muss überhaupt nichts mehr passieren und trotzdem passt der ganze Content schon lange in keine Zeitung mehr. Alles ist voller „AI-Slop“, also KI-Abfall: Texte, Bilder, Zeichnungen, Videos … Nebenbei bemerkt, aber das wäre dann wieder ein weiterer Artikel, generiert die KI auf ihrem eigenen auf Anforderung generierten KI-Abfall neuen „Content“. Nochmal neuer KI-Content aus altem KI-Abfall … ein Horror, den viele Konsumierende wohl noch gar nicht als solchen wahrgenommen haben.

Und an dieser Stelle ist es nun bei mir in den letzten Wochen schleichend passiert. Obwohl ich kein Bergsteiger und auch kein Tiefseetaucher bin, so bin ich von Beidem fasziniert. Ich bin immer wieder begeistert von Aufnahmen aus der Tiefsee und ebenso begeistert von Aufnahmen aus zum Beispiel dem Himalaya. Sowohl auf Facebook, als auch auf Instagram habe ich mir mit großer Faszination Aufnahmen aus diesen Welten angesehen. Habe!

 

Dichtung oder Wahrheit? Egal?

Die Aufnahmen aus der Tiefsee und aus den Gebirgsmassiven wurden im Laufe der Zeit immer spektakulärer. Bis hin dann zur endgültigen Unglaubwürdigkeit. Die wahren echten Aufnahmen aus diesen Welten wurden (und werden jetzt noch immer mehr) durch KI-generierte Bilder verwässert.

Und jetzt ist bei mir die Faszination in Gleichgültigkeit umgeschlagen. Mich interessieren weder die Aufnahmen aus den Höhen, noch aus den Tiefen unserer Erde weiterhin. Weil ich nicht mehr unterscheiden kann, was wahr und echt ist – und nur daran bin ich interessiert – und was generierter AI-Slop, KI-Abfall ist. Das Problem dabei ist nicht, dass mich der KI-Abfall nicht interessiert. Das Problem ist, dass das Wahre für mich an Bedeutung verloren hat. Nicht, weil es mich nicht mehr interessieren würde, sondern weil ich nicht mehr unterscheiden kann, ob das, was ich sehe, echt ist oder generiert. Eine Dokumentation, in der Dinosaurier umherlaufen, ist leicht als gemacht identifizierbar. Das Problem wird dort offensichtlich, wo es nicht mehr offensichtlich ist.

 

Die Verteidigung der Wahrheit

Und damit sind wir beim endgültigen Problem angelangt: Weder gefakte Tiefseeaufnahmen noch künstlich generierte Alpinaufnahmen sind von umfassender gesellschaftlicher Relevanz. Daher ist meine entstandene Gleichgültigkeit diesen Themen gegenüber auch nicht von so großer Bedeutung. Aber die Flut an KI-Abfall beschränkt sich eben nicht auf bestimmte Themen – sie wird hochprofessionell auch und vor allem propagandistisch in die Wahrheit hineingeschwemmt und macht genau diese unkenntlich. Alles wird ein Brei aus Content, der der Wirklichkeit entsprechen kann, aber nicht muss. Und der Brei wird immer größer, da immer mehr Menschen in die Lage versetzt sind, weiteren Brei anzurühren und dazuzukippen. Grenzen verschwinden und eine breiige Content-Singularität entsteht, die sich durch den permanenten KI-Rückgriff auf den immer größer werdenden Breitopf sogar noch vervielfältigt. Ein Horror!

 

Es muss etwas passieren, damit nichts passiert …

Es muss daher dringend eine allgemeingültige Kennzeichnungspflicht für KI-generierte Inhalte eingeführt werden. Sie wird unter anderem von dem von mir sehr geschätzten Wirtschaftsdenker und Gesellschaftsanalytiker Wolf Lotter vehement gefordert. Er sieht in der Gleichgültigkeit die wesentliche Gefahr: „Lügen wird es immer geben, denn wo Interessen existieren, existiert auch das Bestreben, Wirklichkeit zu formen. Das ist nicht neu. Doch wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr die Mühe macht, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden – wenn ihr diese Unterscheidung schlichtweg gleichgültig wird – dann verliert sie ihr Fundament. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob etwas wahr ist, sondern nur noch, ob es gefällt. Und das ist fatal.“ („Haben wir Wahrheit verlernt? Interview mit der Südtiroler Wirtschaftszeitung, 29.08.2025).

Wir alle werden also die Wahrheit verteidigen müssen. Wir werden uns aktiv aussuchen müssen, wem wir vertrauen – und wem nicht. Vielleicht ist das sogar eine Chance für eine neue Qualität, die sich aus der dringenden Notwendigkeit des Breis des Einerleis heraus ergibt. Nano Banana nananana!

 

 

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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.