Das Bewusstsein hinterm Fenster

Die Broken-Window-Theorie: Wird ein offensichtlicher Mangel in einem Unternehmen nicht baldmöglichst abgestellt, so hat das immer Einfluss auf die Umgebung, auf das Bewusstsein der Mitarbeitenden – auch wenn diese nicht gleich zu Verbrechern werden.

 

Ich, der verhinderte Vandale

Vielleicht ist es heute an der Zeit um zuzugeben, dass ich ein Vandale bin – oder sagen wir: war. Als ich so um die 20 Jahre alt war, fuhr ich in jenem Sommer jeden Tag auf der B20 von Furth im Wald nach Cham. Und eines Tages stand da auf einem Parkplatz ein altes Auto. Es stand da einen Tag, dann zwei Tage, dann einfach viele Tage. Ich fuhr jeden Tag an diesem Parkplatz mit diesem einsamen Auto vorbei. Es war klar: Das Auto hatte der Besitzer dort wohl hilflos ausgesetzt.

Eines Tages geschah dann Eigenartiges. Als ich morgens wieder an dem Auto vorbeifuhr, sah ich, dass über Nacht wohl jemand die Räder abmontiert hatte. Als ich abends wieder zurückfuhr, sah ich, dass die Motorhaube offenstand. Einen Tag später sah ich, dass eine Tür fehlte. Dann sah ich, dass die Fenster des Autos eingeschlagen worden waren. Das Auto hatte nach ein paar Tagen des „Einfach nur Dastehens“ scheinbar eine destruktive Dynamik in seiner Umgebung ausgelöst. Es wurde immer mehr verbeult, geplündert, also zerstört. Ich fand das so eigenartig wie faszinierend. Das Auto verwandelte sich jeden Tag in ein immer noch größeres Wrack.

Und als ich eines Sonntagmorgens nach einer durchgefeierten Nacht im legendären Roxy in Straubing mit mehreren Freunden im Auto auf der B20 nach Hause fuhr, da hielt ich nun spontan auf diesem Parkplatz an, stieg bei laufendem Motor aus, ging zu dem ramponierten Auto und trat mit dem rechten Fuß gegen den komplett verbeulten hinteren rechten Kotflügel. Ich meinte zu meinen Kumpels: „Ich wollte jetzt nur mal sehen, wie das so ist.“ Ob es mir vielleicht gut tut. Tat es nicht. Mit viel Gelächter und Gegröle und den Hollies im Kassettendeck ging es dann weiter nach Hause. Meine Karriere als Vandale kam nicht ins Laufen. Übrigens bis heute nicht!

 

Das Bewusstsein und das zerbrochene Fenster

Ich hatte meinen Ausflug in den Vandalismus und das dazu auslösende Auto schon längst vergessen, bis ich einige Jahre später dann von der Broken-Window-Theory gehört habe. Plötzlich wurde mir noch einiges zusätzlich deutlich. Die Theorie besagt nämlich, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Verwüstungen und Kriminalität gibt. Also, dass das eine das andere auslöst. Die beiden amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling stellten dabei in den 80er Jahren dar, dass eine zerbrochene und nicht umgehend wieder reparierte Fensterscheibe schnell weitere Zerstörungen zum Beispiel in einem ganzen Stadtteil nach sich ziehen kann.

Mein Bewusstsein mit einer schon seit längerer Zeit zerbrochenen Fensterscheibe in meiner Umgebung ist also ein anderes als mit einem intakten Fenster. Das Ausschlaggebende ist: Mein Sein findet an einem Ort statt, an dem es wohl niemanden interessiert, dass eine Fensterscheibe kaputt ist. Das hat Einfluss auf mein Bewusstsein. Die gedankliche Konsequenz daraus ist oder kann zumindest sein, dass jeder Zeit weitere Fenster zerstört werden können, ohne dass jemand dafür verantwortlich gemacht wird. Es interessiert ja scheinbar nicht. So der Gedanke. Das passiert unterbewusst – prägt aber das Bewusstsein.

 

Die Broken-Window-Kettenreaktion

Wilson und Kelling gehen nun weitere analysierende Schritte, ausgehend vom zerbrochenen symbolischen Fenster: Aufgrund dieser Unordnung verändert sich die Umgebung immer mehr. Als eine erste Konsequenz entsteht Unsicherheit bei den Menschen: Was ist hier nur los? Die zweite Konsequenz ist den beiden Forschern zufolge, dass eine Furcht vor Kriminalität entsteht: Warum tut hier keiner etwas? Kann man hier machen was man will? Als Folge daraus ziehen diejenigen, die es sich leisten können, aus dieser Umgebung der zerbrochenen Fenster und der aufkeimenden Angst weg. Dafür kommen andere, die diese Umgebung für sich scheinbar nutzen können und wollen: Hier tut ja keiner was! Dadurch wird der gesellschaftliche Stabilisator der sozialen Kontrolle immer weiter abgebaut und die letzte Konsequenz ist dann um sich greifende Kriminalität. Ausgehend vom Sein scheint also auch das Bewusstsein ein anderes geworden zu sein. Mit anderen Worten: Ein Stadtteil versinkt in der Kriminalität, weil ein Fenster nicht schnell genug repariert wurde. Überspitzt, aber sinngemäß.

Soweit die sehr verkürzte Theorie von Wilson und Kelling, die seit ihrer Veröffentlichung durchaus zurecht auch sehr kritisch beurteilt wird. Doch das soll hier nicht weiter interessieren, denn der Grundgedanke das Bewusstsein betreffend ist ein interessanter.

 

Sein, Bewusstsein, das Fenster und Marx

Nun wissen wir seit Karl Marx, dass ökonomische Veränderungen auch Veränderungen der sozialen Beziehungen, der Kultur oder auch der Politik nach sich ziehen. Doch ist eine zerbrochene Fensterscheibe wirklich eine derartige ökonomische Veränderung, die das Bewusstsein verändern kann? An dieser Stelle behaupte ich: Ja!

Und warum ist dieses Thema interessant ist für diesen Blog zu den Themen Agilität, Qualität und Innovation? Weil es nicht wenige Unternehmen gibt, die kaputte Fensterscheiben – tatsächlich oder im übertragenen Sinne – unbeachtet lassen. Das kann die kaputte Lampe, der verdreckte Teppichboden, die zersprungene Fliese im Eingangsbereich, das umgekippte Parkplatzschild, der ungepflegte Außenbereich, der verschlissene Handlauf am Geländer oder was auch immer sein: Wird ein offensichtlicher Mangel in einem Unternehmen nicht baldmöglichst abgestellt, so hat das immer Einfluss auf die Umgebung, auf das Bewusstsein der Mitarbeitenden – auch wenn diese nicht gleich zu Verbrechern werden. Das ist keine neue Erkenntnis, aber trotzdem bleibt dieser Zusammenhang oftmals unbeachtet: „Ist doch egal!“ „Geht doch noch!“

 

„Geht doch noch!“ als Bewusstsein

Genau diese „Ist doch egal!“- oder „Geht doch noch!“- Wahrnehmungen und daraus resultierenden Einstellungen übertragen sich nach und nach auf alle Mitarbeitenden. Und das darf dann niemanden überraschen! In der Managementnorm aller Managementnormen, ISO 9001:2015, finden wir ein eigenes kleines Kapitel über „Bewusstsein“. In diesem steht sinngemäß: Die Organisation muss sicherstellen, dass die Mitarbeitenden sich über die Politik, über die Ziele der Organisation, aber auch über den eigenen Beitrag zur Verwirklichung dieser bewusst sind. Eine von der Organisation unbeachtete zerbrochene Fensterscheibe hat aber Einfluss auf die Realisierung der Politik und Ziele der Organisation über das Bewusstsein der Mitarbeitenden. Und das ist eben weder überraschend, noch neu. Eine agile Organisation, die flexible eigenständig denkende und entscheidende Mitglieder braucht, darf nicht durch kaputte Fensterscheiben gebremst werden. Abgesehen davon: Kann es in einer wahrhaft agilen Organisation überhaupt eine langfristig kaputte Fensterscheibe geben? Eigentlich nicht.

Also haben wir nun drei Möglichkeiten im Umgang mit der Broken-Windows-Theorie in Unternehmen:

  1. Sie kümmern sich um Ihre Fenster und alles wird gut.
  2. Sie kümmern sich nicht um Ihre Fenster und Sie werden bald nur noch Verbrecher als Mitarbeiter haben (nach Wilson und Kelling).
  3. Zur Sicherheit lassen Sie einfach alle Fenster präventiv entfernen.

 

Hier finden Sie einen weiteren Blog-Artikel zu diesem Thema: „Das Biker-Prinzip“

 

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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.