Die Musterlösung – Ende eines Paradigmas

Eine Musterlösung setzt bekannte Faktoren voraus. In unserer Welt, in der Disziplinen ihre Grenzen verlieren, in der die Volatilität die Normalität darstellt und in der fast immer Ambivalenzen herrschen, wird es nicht nur schwer, sondern unmöglich, den antizipierten Idealfall in Form einer Musterlösung zu erarbeiten.

 

Die Musterlösung. Das einzig Wahre. Der Auslöser.

Vor einiger Zeit war ich Teilnehmer an einem Seminar, in dem es um die Konformitätsbewertung von Managementsystemen ging. Es ging speziell darum, inwieweit die (fiktive Fallbeispiel-) Unternehmenspraxis im Einklang war mit ISO 9001 und falls nicht: – auf welche Normforderungen man referenzieren wollte. Ich hatte mit meiner Gruppe eine Lösung gefunden und diese auch begründet dargelegt. Wir waren zufrieden.

Dann kam die Seminarleiterin und stellte fragend fest: „Sie sind schon fertig?! Und Ihre Lösung ist … aha … mhm …“ Sie schaute auf ein Blatt Papier, welches sie in der Hand hielt, schaute nochmals auf unsere Lösung und meinte dann: „Das ist leider falsch!“ Warum das falsch sein sollte, wollten wir wissen. Die Antwort: „Weil das hier die Musterlösung ist und da kommt man auf eine andere Lösung! Schauen Sie vielleicht einfach nochmal!“ Die Seminarleiterin drehte uns daraufhin den Rücken zu und schlenderte mit ihrer Musterlösung und mit der ihr so von ihr selbst interpretierten zugestandenen Macht zur nächsten Arbeitsgruppe.

Wir waren erstaunt. Musterlösung?

Ich fühlte mich plötzlich an meine Schulzeit erinnert.

 

Die Musterlösung. Eine Möglichkeit. Ein Rückblick.

Als Schüler, der im Gymnasium in die Oberstufe eintreten wollte, musste ich mich damals für einen Leistungskurs entscheiden. Die Lehrer warben damals vor uns Schülern für ihre Leistungskurse. Und da war ein Lehrer, der warb für seinen in Mathematik mit folgenden Worten: „Wir werden im Lk Mathe quasi nochmals bei Null beginnen.“ Den Rest habe ich überhört, denn das reichte mir an Info. Nochmals die Reset-Taste zu drücken war für mich mehr als attraktiv, denn meine Leistungen und vermeintlichen Potenziale bis dahin waren eher wenig beeindruckend. Das war meine Chance nochmals ganz neu anzufangen und durchzustarten. Ich nahm Leistungskurs Mathematik.

Das Gute: Wir begannen tatsächlich bei Null.

Das weniger Gute: Wir hatten nach der ersten Doppelstunde mathematikbezogen die ersten elf Mathejahre hinter uns gebracht. Das war schon ein sehr zügiges Reset. Und wegen dieser 90 Minuten hatte ich dann anschließend zwei Jahre Leistungskurs Mathematik am Hals! Es war … naja, das ist auch nicht so wichtig.

Interessant war aber unser Mathelehrer. Denn er arbeitete auch mit Musterlösungen. Ganz offen vor uns Schülern. Und wir hatten auch einige richtig mathekluge Mathematikgenies in der Klasse. Gut, im Vergleich zu mir waren natürlich alle Mathematik-Genies, aber hier meine ich diejenigen, die an so Jugend-Bundes-Mathematik-Wettbewerben teilnahmen. Und davon hatten wir tatsächlich welche in der Klasse. Das machte es für mich nicht besser. Überhaupt gar nicht.

Aber unser Lehrer stellte anhand der Musterlösung immer wieder die Frage an die „Profis“, ob ihnen denn etwas Besseres einfallen würde. Einfacheres, andere Wege, Umwege, Zwischenrechnungen und so weiter. Und es entspannen sich daraus immer wieder interessante Dialoge. Denen ich zwar nicht folgen konnte, aber die von mir mit Bewunderung wahrgenommen wurden. Manchmal war ich mir dabei aber auch nicht sicher, ob die Dialoge wirklich noch in Deutsch oder doch eher schon auf Klingonisch geführt wurden. Wie dem auch sei:

Ich habe gelernt, dass Musterlösungen eben Muster für Lösungen sind, aber eben nur Muster. Nicht aber die eine, die alle anderen ausschließende Lösung.

Die oben angesprochene Seminarleiterin hatte scheinbar nicht unseren Mathematiklehrer. Sie hätte ihn nötig gehabt.

 

Die Musterlösung. Das Ende eines Paradigmas. Das Heute.

Musterlösungen sind etwas Feines. Denn sie stellen ja per se nicht nur eine Möglichkeit dar, sondern sie ist die mustergültige Lösung für ein vorhandenes Problem. Sie ist das Beste, was einem passieren kann, wenn man die Zukunft sicher beherrschen will.

Die Welt ist vor allem komplex geworden. Die Mathematik vielleicht nicht so sehr, aber die Welt außerhalb doch sehr. Alles scheint irgendwie unsicher geworden zu sein. Um zu einer Musterlösung kommen zu können, brauche ich aber nicht nur einige, sondern alle relevanten Faktoren. Das heißt: Habe ich Unsicherheiten und muss ich mit Überraschungen rechnen, dann habe ich keine Chance eine Musterlösung zu erstellen.

Eine Musterlösung setzt bekannte Faktoren voraus. In unserer Welt, in der Disziplinen ihre Grenzen verlieren, in der die Volatilität die Normalität darstellt und in der fast immer Ambivalenzen herrschen, wird es nicht nur schwer, sondern unmöglich, den antizipierten Idealfall in Form einer Musterlösung zu erarbeiten. Und noch immer gibt es genügend Menschen und Unternehmen, die genau das (ver-)suchen.

Das heißt: Wir werden uns Experimenten stellen müssen. Wir werden probieren müssen. Wir müssen herausfinden, was wohl passiert, wenn wir A oder B oder keines von beiden machen. Und wir wissen es im Vorfeld nicht. Es gibt keinen, der einen Zettel schreibt, auf dem steht was passieren wird. Und das ist dann auch das Fundament von Innovation, von Kreativität. Innovation kennt keine Musterlösungen. Musterlösungen gibt es immer nur für bereits Vorhandenes, Vorgedachtes ohne Variablen. Innovation bewegt sich dagegen immer in das weite Feld des Unbekannten.

Und deswegen dürfen wir auch nicht auf die Seminarleiterin warten, die mit Zettel in der Hand auf uns wartet und uns sagt, was richtig und was falsch ist. Wir müssen dagegen Lehrer unterstützen, die eine Ahnung haben, wie es sein könnte, vielleicht auch ist, die genau das aber zur Disposition und zur Diskussion stellen und alle aktiv einbinden. Mich in dem speziellen Fall ausgeschlossen.

Im Nachhinein muss ich sagen: Er war ein guter Lehrer! Obwohl er an mir trotzdem gescheitert ist. Und obwohl ich sehr viel experimentiert habe …

 

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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.