2018 – Eine Gegenwarts-Dystopie für 2019

Eines meiner Ziele für 2018 war es nicht zu fliegen. Das habe ich geschafft! Und es war ein weiteres Ziel, mehr Kilometer mit der Bahn zu fahren als mit dem Auto. Ich bin 29142 Bahnkilometer und 30552 Autokilometer gefahren. Obwohl das Ziel nicht extrem ambitioniert war – ich habe es trotzdem nicht geschafft.

 

2018 – Endless Summer (Scooter)

„The sky has changed

Can you smell the sun?“

 

In Niederbayern war man im August kurz davor einfach so durch die Donau marschieren zu können. Man musste das nicht machen, aber man hätte können. Die Hotel- und Frachtschifffahrt kam aufgrund des niedrigen Pegels nahezu zum Erliegen.

In Ferryland in Neufundland konnte man an Ostern einen ursprünglich arktischen Eisberggiganten nie dagewesener Größe vorbeiziehen sehen – einen von zu diesem Zeitpunkt der Saison bereits 600. Eine Zahl, die die Jahre zuvor bei weitem übertraf.

Landwirte mussten bereits im Sommer auf Futterreserven für den Winter zurückgreifen, um ihre Tiere über die Runden zu bekommen – ganz zu schweigen von weiteren Ernteausfällen.

In Deutschland brannte 2018 nicht nur ein Moor über Wochen hinweg. Auch in anderen Ländern dieser Erde kam es zu verheerenden Wald- und Buschbränden. Ein Beispiel dafür ist Kalifornien. Der sicher sehr gut gemeinte Ratschlag des dortigen Präsidenten, man müsse den Wald einfach auch immer wieder mal durchfegen – so wie die Finnen das auch machen würden – kam leider zu spät. Für die Zukunft ist der Tipp aber sicher sehr wertvoll, auch wenn die Finnen das nicht machen.

Kurzum: Der Sommer war heiß. Sehr heiß. Und er war vor allem auch lang. Er begann sozusagen bereits im April und er fand sein Ende eher erst im Oktober. Mit eben dramatischen Konsequenzen, über die wir hier in Deutschland viel gelesen, gehört und die wir auch gesehen haben. Aber: Wir haben sie nicht gespürt. Und wenn, dann im Freibad zumeist wohltuend. Denn:

Das Freibadbecken war gut gefüllt, unser Wasser kam weiterhin aus der Wasserleitung oder aus Flaschen im Supermarkt (gerne aus Plastik) und wenn es uns draußen etwas zu heiß wurde, dann gingen wir eben ins Haus – am besten in eines mit Klimaanlage; zumindest aber mit Ventilator. Also Drama irgendwie ja, aber eher passiv. Mehr so als Drama-Konsum. Das ist wahrscheinlich unser Problem: Wir konsumieren das um uns herum stattfindende Drama mit einer Art gefühlten Freiwilligkeit entweder live vor Ort oder im TV – und reden darüber.

 

2018 – Jetzt ist Sommer (Wise Guys)

„Dann Sprung mitten rein in den kalten Pool

Und n‘ Caipirinha, ziemlich cool.“

 

Freiwilligkeit zeichnet sich dadurch aus, dass man etwas kann, aber nicht muss. Und das Schöne ist, dass wir scheinbar noch nicht müssen. Wir sind uns wohl insgesamt der Tragweite dessen, was um uns herum passiert durchaus bewusst. Aber wir bringen es in keinen praktischen Zusammenhang mit uns selbst. Und wenn, dann wiederum aus einer eher Meta-Ebene. So sendet am Ende seines ISS-Aufenthaltes 2018 unser aller AstroAlex, der deutsche Astronaut Alexander Gerst, eine Botschaft an seine und unsere Enkelkinder in der Zukunft: Er entschuldigt sich dafür, wie wir alle ihnen unseren Planeten hinterlassen haben. Wir finden das sehr gut, bewegend und auch zutreffend. Deswegen teilen wir seine Botschaft im Netz, schreiben als Kommentar dazu wie recht er doch hat und dass sich das alle mal anschauen sollten. Mit „alle“ sind alle gemeint, außer mir selbst, der oder die das teilt.

Und einige Tage zuvor haben wir auf youtube und facebook die Rede der erst 15jährigen Schwedin Greta Thunberg auf der Klimakonferenz 2018 in Kattowitz geteilt. Mit ähnlichen Kommentaren wie „Sie hat so recht!“ und „Das sollten sich die Politiker mal anschauen!“ versehen. Die Politiker. Das sind in der Hauptsache nicht wir.

Wir sehen und nehmen wahr, aber wir verstehen nicht. Es kommt schlussendlich aber nicht auf das Sehen und Wahrnehmen an, sondern auf das Handeln. Und Videos im Netz zu teilen und mit Kommentaren zu versehen ist nicht Handeln. Das ist zu großen Teilen einfach auch nur Wichtigmachen! Und wir wollen uns damit auf eine Stufe stellen mit AstroAlex oder Greta – und uns damit öffentlich moralisch legitimieren: „Ich habe ja das Video geteilt! …

Anschließend habe ich mich dann ins Flugzeug gesetzt und einen Kurztrip nach New York zum Weihnachtsshopping gemacht und eine Flugreise nach Sumatra für meinen Frühjahrsurlaub gebucht. Ich habe mir dann das neue Smartphone gekauft; nicht dass das alte schon kaputt wäre, aber es ist nicht mehr das Neueste. Dieses Smartphone habe ich dann mit meinem SUV parallel zur S-Bahn nach Hause gefahren, wo mich schon der gemütlich brennende Holzofen erwartet hat.“

So oder ähnlich könnte es aussehen. Aber das alles passt nicht zusammen. Wir verstehen es nicht. Wir sehen und teilen nur. Das reicht nicht. Das hat für 2018 nicht gereicht und es reicht erst recht nicht für 2019. Es ist eine AstroAlex-Greta-Illusion.

 

2018 – Gegenwind der Zeit (Die Toten Hosen)

„Jetzt gehen die Mauern hoch um unser Vaterland“

 

Doch unser „Wetter-Klima“ ist nicht unsere einzige Herausforderung. Wir haben nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile in ganz Europa, ja, auf der gesamten Welt ein politisches Klima mit politisch Handelnden etabliert, die eigentlich in einem aufgeklärten 21. Jahrhundert noch nicht einmal einem Hinterzimmer-Stammtisch zuzumuten sind. Und doch sind diese Menschen von uns gewählt worden und wir müssen ihnen nun zuhören, wie sie ihre verschrobenen, gefährlichen und unmenschlichen Gedankenschwurbeleien in Parlamentsmikrophone palavern. 1989 wurde die berühmteste trennende Mauer der Welt unter Jubel eingerissen und heute werden wieder allüberall Mauern gefordert und Stacheldrahtzäune gebaut. Hier möchte ich bewusst auf einen Link verzichten.

Wir haben einen der mächtigsten Männer auf dieser Erde, der davon überzeugt ist und es auch noch öffentlich ausspricht, dass er ein very very large brain hat. Mit diesem sehr großen Gehirn äfft er dann behinderte Menschen nach, steigt aus jahrelang mühsam verhandelten Abkommen aus und destabilisiert mit Kurznachrichten nahezu täglich die gesamte Welt immer noch ein Stückchen mehr.

Mit Bolsonaro haben wir jetzt 2018 in Brasilien einen Präsidenten, der Gewalt, Folter, Schusswaffen etc. befürwortet – und ganz offensichtlich und offen formuliert die Demokratie in Frage stellt. Der Mann ist gewählt worden, obwohl all das bereits vor der Wahl offiziell bekannt war. Und er ist nicht der einzige auf unserem Planeten. Auch in Deutschland und Österreich haben wir genau diese bereits praktisch sicht- und erlebbaren Tendenzen und Konsequenzen. Wir müssen uns um die Alternativen kümmern! Wir müssen aufstehen und uns sichtbar machen!

Wenn der deutsche Bundespräsident Steinmeier von uns fordert, dass wir miteinander reden sollen – und zwar nicht nur unter unseresgleichen, sondern bewusst mit anders Denkenden – dann ist das ein guter Vorschlag. Kinder von AfD-Politikern aus der Schule auszuschließen, AfD-Politiker in Unterwäsche zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen oder AfD-Politiker aus dem Kino zu schmeißen: Das sind ganz sicher nicht die richtigen Maßnahmen. Das ist lediglich Wasser auf die gefährlich mahlenden Mühlen.

 

2018 – World in our hands (Taio Cruz)

„No walls can hold us

Cause, no one controls us“

 

Nun ja.

Die Welt wächst zusammen, sie ist ein globales Dorf. So heißt es manches Mal. Und es ist dennoch so falsch. Nicht die Welt wächst zusammen, sondern die Wirtschaft. Auf vielfältigste Weise. So haben wir hier in Deutschland eine wilde Dieselgate-Diskussion, die niemand in den Griff zu bekommen scheint – weil zu viele Arbeitsplätze davon abhängen. Aber nichtsdestotrotz bewegt sich Einiges, da Gerichte Fahrverbote für Städte erteilen und damit Zugzwang aufbauen. Was passiert dann? Die Diesel-Autos mit ihren ungesunden Abgasen werden – inklusive Abgase – exportiert. Vor allem in osteuropäische Länder. Gerade so, als wären die Abgase dort weniger tragisch für unseren blauen Globus.

Wir Reichen exportieren emissionsstarke Produktionen einfach in ärmere Länder – und sind damit sauber. Hier. Weil die Emissionen ja woanders stattfinden. Das ist nicht nur ein wenig irre. Das verhält sich ähnlich mit der Elektromobilität: Der Ausstoß findet nicht mehr direkt am Auto statt, also scheint das gut zu sein. Welche Materialien für die Herstellung von Akkus für Autos gebraucht werden und unter welchen Bedingungen diese abgebaut werden – ebenso wie für Smartphones etc. – soll auch nicht das Thema sein. E-Mobilität ist schick und vor allem mittlerweile Statussymbol geworden. E-Mobilität muss man sich leisten können – und das darf dann gezeigt werden.

Die Digitalisierung und die Digitale Transformation ist ein weiterer Katalysator für den Ausbau des globalen Dorfes. Alles ist mit allem vernetzt. Daten stehen in Massen zur Verfügung: überall, verwert-, veränder- und manipulierbar. Orwells Horrorvision wird mit einigen Jahren Verspätung nun doch noch Wirklichkeit. In China hat man damit auch schon offiziell begonnen. Was inoffiziell passiert kommt immer wieder punktuell zu Tage. Dann eine kurze Aufregung von uns allen und anschließend plaudern wir wieder mit Alexa. Es darf uns nicht wundern, wenn Marc-Uwe Klings Shop aus Quality Land schneller Wirklichkeit wird als wir uns das vorstellen können. Wir tragen alle dazu bei, weil wir die zugegeben genialen Angebote, Leistungen und Unkompliziertheiten von amazon zu schätzen wissen. Und sie deswegen auch gerne in Anspruch nehmen. Ohne dabei aber über die Folgen großartig nachzudenken. Bei amazon haben wir bald alles aus einer Hand. Alles. Und alles meint Alles.

 

2018 – Liar Liar (Avicii)

„There might be something underneath it all

But at least I’ll find what I’ll find out in the end.“

 

Meine Oma meinte immer, dass der Krug immer solange zum Brunnen ginge, bis er bricht. Das ist keine unbekannte Redensart, aber sie ist noch immer wahr. Doch es ist ein zunehmendes Problem mit der Wahrheit. In Zeiten „alternativer Fakten“ oder „Fake News“ wird es immer schwieriger die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden. Ein bisschen Fake, also Dichtung, dann ein wenig mehr Fake, dann irgendwann nur noch Fake. Dabei spielt es für den Empfänger schon fast keine Rolle mehr, ob die Information bewusst oder „aus Versehen“ unwahr ist.

Die Spiegel-Affäre um Claas Relotius am Ende dieses Jahres 2018 hat nochmals massiv die oder einige Gemüter bewegt. Ein Spiegel-Journalist hat also mehrere seiner Artikel aufgemöbelt. Zum Teil hat er seine Artikel auch mit Möbel ausgestattet, die es gar nicht gab. Das ist für die Branche eine Katastrophe, für den Spiegel allemal. Jedoch stellt sich die Frage, ob genau diese Affäre in der Fläche, um es mal so auszudrücken, von Interesse war und ist. Es bleibt zu bezweifeln. Denn wir nehmen es alle nicht mehr so ernst, was uns tagtäglich an Informationen um die Ohren oder vor die Augen schwirrt. Und das ist mehr als problematisch!

In Indien, aber nicht nur dort, wurden 2018 über WhatsApp Menschen irgendwelcher abscheulicher Verbrechen beschuldigt und dann von einem wütenden Mob zu Tode geprügelt. Auch wenn die Beschuldigten nichts damit zu tun hatten, die Infos also kompletter Fake waren: Zu spät.

Es muss nicht immer so dramatisch sein. Wir teilen auch auf facebook Posts mit Bildern von z.B. vermissten Kindern oder mutmaßlichen Verbrechern. Die Posts sind zum Teil schon einige Jahre alt und in den Kommentaren ist vermerkt, dass das Kind schon seit einigen Jahren wieder zuhause oder der Verbrecher schon längst hinter Gittern gelandet ist. Trotzdem teilen wir. Weil es uns am Herzen liegt zu helfen, aber weil es uns nicht am Herzen liegt, uns auch nur ansatzweise damit näher zu beschäftigen.

Der Autor Armin Reis hat es in seinem Beitrag Neues aus dem Land der Verdichter und Denker sehr schön auf den Punkt gebracht: „Und dann kam der 4. September 1998. Er wird wahrscheinlich als der wichtigste Tag in die Geschichte des Lesens eingehen. An diesem Tag wurde von Larry Page und Sergey Brin … die Firma Google Inc. gegründet. … Seitdem googelt die Welt.“ Wir haben aufgehört richtig zu lesen. Lesen, welches zum Verständnis beiträgt. Aber zu oft wollen wir nicht mehr verstehen. Es reicht uns, wenn wir einen „BILDhaften“, einen auf einen Suchbegriff komprimierten Eindruck haben und uns daraus ein selbstredend verkürztes und möglichst einfaches Urteil bilden. Vom „Verdichten“ und „Verkürzen“ ist es nur noch ein kleiner Schritt zum „Fake“ – und von da aus nur noch ein Katzensprung zur Sensationsgier. Dann leben wir in einer Welt, in der wir nicht mehr wissen, was ist und was nicht. Aber mit vielen Sensationen, die wir teilen können.

 

2019 – What shall we do now (Pink Floyd)

„But never relax at all

With our backs to the wall“

 

Bewusst habe ich den gesamten Blog-Artikel in der Wir-Form geschrieben. Ich muss mich mit einbeziehen. Nicht in alles, aber in einiges. Das ist betrüblich: Festzustellen, dass man in vielen Punkten nicht richtig handelt oder gehandelt hat. Es ist zum Beispiel nicht gut einen Diesel-SUV zu fahren. Es ist auch nicht gut einen Holzofen zu haben. Genau hier sollte dann auch unser Ansatzpunkt sein.

Eines meiner Ziele für 2018 war es nicht zu fliegen. Das habe ich geschafft! Und es war ein weiteres Ziel, mehr Kilometer mit der Bahn zu fahren als mit dem Auto. Ich bin 29142 Bahnkilometer und 30552 Autokilometer gefahren. Obwohl das Ziel nicht extrem ambitioniert war – ich habe es trotzdem nicht geschafft.

Es sollte unsere Aufgabe sein etwas weiser zu werden. Was meine ich damit?

Erstens sollten wir verstehen, was unser Handeln auslöst. Nicht die Tatsache, dass wir etwas können, sollte unsere Maxime sein, sondern der Anspruch zu verstehen, welche Konsequenzen unser beabsichtigtes Handeln hat. Und dann bewusst danach zu handeln. Ob dann der Kurztrip nach Südafrika oder das nochmals neuere Smartphone in Betracht kommt, oder ob ich nun etwas teile oder es bleiben lasse – das bleibt jedem selbst überlassen.

Zweitens ist es notwendig wieder miteinander zu reden. Zu argumentieren. Ohne Beleidigungen, Hass und Arroganz. Dies in sozialen Netzwerken zu berücksichtigen, genau so als würde man den Betreffenden direkt gegenüberstehen, würde schon sehr viel helfen. Das nennt man Respekt. Für Menschen, die zumindest ein wenig weise sein wollen, spielt Respekt eine wesentliche Rolle.

Drittens sollten wir alle darauf achten, welche Macht wir wem verleihen: Politisch wie wirtschaftlich. Nicht deswegen, weil etwas einfach zu sein scheint oder tatsächlich auch ist, ist es die beste Lösung. Unsere Welt ist viel zu komplex, als dass einfache Lösungen nicht dramatische Konsequenzen hätten. Also passen wir auf, wem wir unsere Stimme, unsere Daten und unser Geld freiwillig geben, um zu verhindern, dass wir unter Umständen bald nicht mehr frei handeln können.

Ich denke, dass wir alle dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Auch wenn es oftmals nur ein Tropfen auf einen heißen Stein zu sein scheint. Aber wie wir wissen: Steter Tropfen höhlt den Stein. Aber eben nicht ein einziger Tropfen!

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen richtig guten Start ins 2019, ein gelingendes solches, viel Freude und Spaß in einem gemeinsamen etwas weiseren Miteinander!

 

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Dr. phil. Markus Reimer ist Keynote-Speaker und Lead Auditor für Managementsysteme.