Neue und alte Mitten

Vor kurzem habe ich mal wieder Presseartikel aus den späten Neunzigern gelesen. Und da fand ich Aussagen von etablierten Parteien, dass sie sich um die Mitte kümmern würden. Es ist anzunehmen, dass sie damit die Mitte der Gesellschaft meinen. Das war und wäre immer noch begrüßenswert, auch wenn sich dadurch sofort die Frage aufdrängt, was dann mit denen passiert, die sich nicht in dieser Mitte befinden. Sicher könnte man als Antwort geben, – und es wäre fast zu befürchten, dass diese Antwort kommen würde – dass die Mitte so breit und dick gewählt ist, dass erst gar keine Grenzbereiche entstehen. Dann haben wir einfach nur noch „Mitte“. Trotzdem ist der Begriff der Mitte an sich nicht so einfach. Denn es bleibt zu bedenken, dass es grundsätzlich einfach ist, in einem geometrischen Gebilde eine Mitte zu finden oder gar zu berechnen. Wie aber findet man eine Mitte in einem Konstrukt, das da heißt „Gesellschaft“? Wer gehört dazu und wer nicht, weil ausgegrenzt, und wo könnte dann da die Mitte sein, um die sich die Parteien kümmern wollten. Abgesehen davon, weiß man erst heute, also ca. 15 Jahre später, was „kümmern“ damals meinte. Aber das nur am Rande. Also, wo ist die Mitte eines Gebildes, von dem man nicht weiß, wo dessen Grenzen sich befinden? Und damit es noch viel unübersichtlicher wird: Die Parteien wollten sich um die „Neue Mitte“ kümmern. Somit gab es damals, vielleicht auch noch heute, eine Mitte, eine neue Mitte und damit musste es zwangsläufig auch noch eine alte Mitte geben. Vielleicht waren die Mitte und die alte Mitte identisch und sind es immer noch. Seis drum. Wir hatten und haben vielleicht immer noch eine alte und eine neue Mitte in der Gesellschaft. Aber ist es nicht so, dass eine neue Mitte überhaupt erst nur dann entstehen kann, wenn das Gebilde selbst sich verändert?  Und dann haben wir einfach nur wieder eine Mitte in einem neuen Gebilde. Ich behaupte doch auch nicht, dass ich mir ein neues Auto gekauft habe – mit einem neuen Lenkrad!

Damals wie heute haben wir es bei solchen Plattitüden einfach nur mit neuen oder alten Hülsen zu tun, deren Früchte aber nicht alt werden können, weil sie erst gar nicht da sind. Und wollen wir diese Metapher noch fortführen, in dem wir uns fragen, was alte Hülsenfrüchte in der Mitte unseres Körpers bewirken? Nein, wollen wir nicht.