Die Überwindung der Widerspenstigkeit

Widerspenstigkeit wird nicht gerne gesehen. Sie führt grundsätzlich dazu, dass das, was man will, behindert, wenn nicht gar verhindert wird. Ein Beispiel: Der Plan ist: Das Kind soll jetzt ins Bett. Aber: Die Widerspenstigkeit des Kindes führt dazu, dass der Plan nicht so leicht umgesetzt werden kann, wie das eigentlich vorgesehen war. Das ist Alltag. Das ist schade. Eigentlich.

Da das Kind nicht mit dem im Raum stehenden Bett-Plan einverstanden ist, dies auch verbal so äußert und durch entsprechende Nichthandlung untermauert, sind Konsequenzen erforderlich, die eben bei einem Gelingen des Plans nicht erforderlich gewesen wären. Konsequenzen bedeuten zusätzlichen und damit ungeplanten Aufwand.

Die Konsequenz für das Kind könnte sein, dass es mit Versprechungen, zum Beispiel mit der Zusage des Vorlesens einer Gute-Nacht-Geschichte, ins Bett gelockt wird: Die Überwindung der Widerspenstigkeit mit einem Zusatzangebot. Vielleicht geht das Kind auf das Angebot ein. Vielleicht aber auch nicht. Eine weitere mögliche Konsequenz für das Kind könnte sein: Androhung einer Strafe. Das ist für keine Seite schön und vor allem auch nicht empfehlenswert. Es könnte jedoch zur Überwindung der Widerspenstigkeit führen. Vielleicht. Es wäre ein Erfolg ohne wirklichen Sieger.

Und man könnte dem Kind natürlich auch erklären, warum es wichtig ist, dass es jetzt ins Bett gehen sollte. Das Kind wird es verstehen. Vielleicht. Eher aber nicht.

Und so steht – nicht nur, aber eben auch – die Widerspenstigkeit zumeist zwischen Plan und erreichter Absicht.

Widerspenstigkeit fordert Konsequenzen, fordert Aufwand – und nicht zuletzt ist es die Widerspenstigkeit, die dazu auffordert, von Routinen, vom Alltäglichen, vom Vorhersehbaren, vom Geplanten abzuweichen, sich etwas Anderes, etwas Neues zu überlegen. Somit hat, bei der richtigen Betrachtung, Widerspenstigkeit auch sehr viel Gutes – sofern man sie zulässt!

Vor einigen Wochen hatte ich in einer großen Stiftung, die in der Behindertenhilfe sehr erfolgreich tätig ist, nach der Beendigung eines Auftrages dort, mit einer Führungskraft ein interessantes Gespräch. Sie erzählte mir, dass sie es sehr schade fände, dass sie keine Zivildienstleistenden mehr hätte. Denn diese waren es, die frech und frei ihre Meinung und Widersprüche äußerten; in dem Wissen, dass sie bald wieder weg sein würden. Und davon habe die Führungskraft immer profitiert. Das ist nicht neu; es ist dies eine interessante Sichtweise, die auch von Goethe so unterstützt wird, der einmal sagte: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“

Was ist also zu tun? Wir sollten zur Steigerung unserer Produktivität, unserer Kreativität und damit ja auch zum Ausbau unseres innovativen Potenzials viel mehr Widerspenstigkeit leisten, ja, sie sogar einfordern. Aber ob das auch in der Schulausbildung unserer Kinder oder in unserer Gesellschaft so vorgesehen ist? Ob uns das als Eltern so gegeben ist? Oder als Führungskraft? Mehr Widerspenstigkeit zu verlangen, dürfte auf jeden Fall für große Verwirrung sorgen, denn Tradition hat dieser Gedanke schon mal nicht.

Wir könnten bei den Kindern, die ins Bett sollen, uns aber schon mal desensibilisieren. Festzustellen bliebe dann nur noch, ob von den Kindern Goethes das Lesen einer eigenen Gute-Nacht-Geschichte, zum Beispiel der Iphigenie auf Tauris, eher als Angebot oder mehr als Drohung verstanden wurde…