Das Leben vermessen

„1 : 0“ für Deutschland hieß es am Ende des WM-Finales. Das ist nach dem Schlusspfiff ein eindeutiges Messergebnis: Deutschland hat ein Tor mehr geschossen als der Finalgegner Argentinien – darum ist Deutschland jetzt Fußballweltmeister und Argentinien eben nicht. Gäbe es andere Kriterien zum Vermessen, wäre vielleicht eine andere Mannschaft Weltmeister geworden. Aber das ist unerheblich. Was man messen kann ist eindeutig und was eindeutig ist, kann man gut organisieren. Fußball ist deswegen einfach; das Leben dagegen nicht.

Wie zum Beispiel kann man den Partner fürs Leben eindeutig finden? Wie kann man messen, dass der eine mögliche Partner dem anderen möglichen Partner vorzuziehen ist? Das ist nicht direkt in Toren zu messen – zumindest nicht, wenn man keine Spielerfrau sein möchte oder werden will. Nicht zuletzt scheitern deswegen so viele Ehen, weil sich das vielleicht etwas euphorisch interpretierte ursprüngliche Messergebnis im Laufe der Zeit als ein falsches herausstellt. Deutschaufsätze, Dressurreiten oder Turmspringen, Modelwahlen, Film- oder Musikpreise, Gerichtsurteile, bester Spieler der WM … in vielen Bereichen ist objektives Messen schwierig bis gar unmöglich, obwohl es doch so notwendig wäre: Oder wie ist objektiv erklärbar, dass in Südamerika der Südamerikaner Messi zum besten Spieler der WM im südamerikanischen Brasilien gewählt wurde? Oder: Wie verhält es sich bei südamerikanischem Essen mit südamerikanischem Chili, wenn es um die Schärfe dieses Essens geht? Wie können Sie einschätzen, wie scharf das Essen objektiv ist?

Die Sache mit Messi muss hinten angestellt werden, denn hier liegen nur eigenartige Vermutungen nahe. Aber was das Essen betrifft, da gibt es tatsächlich eine Messlösung, und zwar schon seit fast 100 Jahren: Das Scoville-Verfahren. In diesem wird vermessen, wie viele Liter Wasser benötigt werden, um zum Beispiel die Schärfe einer Chilisauce zu neutralisieren. Angenommen, Sie müssen zehn Liter Wasser trinken, um die Schärfe zu neutralisieren, dann handelt es sich um einen Messwert von 10.000 Scoville. Ob Ihnen allerdings diese Erkenntnis nach zehn Liter Wasser noch weiterhilft, sei mal dahingestellt.

Natürlich lassen sich auch andere Dinge des Lebens vermessen. Zum Beispiel, wenn Sie beabsichtigen Ihr Leben mal anders als bisher zu gestalten. Doch was heißt „anders“? Wie soll man das vermessen? Ganz einfach: Wie viele neue Gerichte haben Sie in diesem Monat gegessen? Wie viele verschiedene Wege sind Sie im letzten Monat zur Arbeit gefahren? Mit wie vielen Menschen haben Sie im letzten Monat kommuniziert, zu denen Sie schon über ein Jahr keinen Kontakt mehr hatten? Wie viele kulturelle Veranstaltungen haben Sie im letzten Monat besucht? Und so weiter und so fort. Das alles erweitert den Horizont, das kreative Denken, die Innovationsfähigkeit, das Anderssein – das Andersleben. Und das alles können Sie sich konkret vornehmen und anschließend messen.

Wenn Sie nun nichts davon geschafft haben, obwohl Sie das unbedingt wollten, dann können Sie die Anzahl der Gründe bestimmen, warum es Ihnen nicht möglich war. Die vielen Wege dafür, dass es doch möglich gewesen wäre, die ignorieren Sie einfach. Dann haben Sie das ungute Gefühl objektiv neutralisiert. So sinnvoll kann messen sein.